Hörbuch-Rezension: Crux | Ramez Naam

by Wolfgang Brandner
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Futuristisches Evolutions-Panoptikum

Cyberwar 2.0

 

Die Erfindung der Nano-Droge Nexus hat die Menschheit in ein neues Zeitalter katapultiert. Die Verschmelzung von Mensch und Internet hat zu einer internationalen Terrorkrise geführt. Kade Lane, ein brillanter Forscher und Miterfinder von Nexus, findet sich plötzlich wieder in einem undurchsichtigen Kampf zwischen unerbittlichen US-Behörden und skrupellosen Terroristen. Sein größter Gegner, die Chinesin Su-Yong, tritt ihm als scheinbar übermächtiges Cyberwesen entgegen. Eine atemlose Jagd beginnt. [Text & Cover: © Ronin Hörverlag]

Der Vorteil des zweiten Teils einer Serie ist offensichtlich: Die Geschichte darf als bekannt vorausgesetzt, die Ausgangssituation braucht nur mehr knapp umrissen zu werden. Der Autor erspart sich somit die Zeit, dem Leser seine Figuren vorzustellen und kann sich ungeduldig ins Geschehen stürzen. (Rezension zum ersten Teil NEXUS).

Im konkreten Fall ist NEXUS, das ein Hybrid aus bewußtseinserweiternder Droge und Betriebssystem für den menschlichen Geist darstellt, offen verfügbar. Der Quellcode ist nicht mehr länger geheim, jeder mit ausreichend Programmierkenntnissen kann seine eigenen Modifikationen vornehmen. Setzt man dieses System nun in einer Zeit aus, in der Biohacking – beliebige Veränderungen des menschlichen Genoms, um beispielsweise Augenfarbe oder Muskelwachstum zu beeinflussen – nichts Ungewöhnliches ist, ergeben sich unüberschaubar viele Möglichkeiten, die Welt zu beeinflussen. Ramez Naam sprüht vor Begeisterung und Kreativität, die Chancen und Risiken einer solchen Welt zu schildern: Krankheiten werden frühzeitig erkannt und können geheilt oder deren Ausbruch gar verhindert werden. Durch den Datentransfer innerhalb des Nexus-Netzwerkes wird so etwas wie Telepathie ermöglicht. Durch das Teilen von Gedanken entsteht eine menschliche Form von Schwarmintelligenz. Kinder können sich gemeinsam und weitaus effektiver als isoliert Wissen aneignen. Komplexe Berechnungen können wie bei Großrechnern in der Gruppe gelöst werden, indem klar abgegrenzte Teilaufgaben auf die einzelnen Gehirne, die als Knoten fungieren, verteilt werden. Durch Kinder, die pränatal mit Nexus in Kontakt kommen, verschwimmen die Grenzen zwischen Mensch und Maschine – Hybridwesen entstehen. Aber natürlich ergeben sich für kriminelle Geister gänzlich neue Betätigungsfelder: Durch manipulierte Software können andere Personen ferngesteuert, dazu gebracht werden, Anschläge zu verüben, ohne, daß der wahre Drahtzieher jemals in Erscheinung tritt.

Ramez Naam sprüht, entwirft und dekoriert umsichtig eine durch Nexus geprägte, durch dessen Möglichkeiten sich gänzlich neu erfindende Welt. Von einem englischen Geschäftsmann, der sich für ein paar Minuten Urlaub im Alltag in den Körper eines tausende Kilometer entfernt lebenenden jungen Inders versetzt, bis hin zu Werbeflächen, die ihre Botschaft nicht nur auf jeden Passanten zugeschnitten präsentieren, sondern diesem auch Geruchs- und Geschmackserlebnisse kredenzen, dringen die Ideen des Autors in jeden Winkel des Alltags. Bei der Ausgestaltung seines Bühnenbildes droht er dabei jedoch nur allzu oft die Handlung aus den Augen zu verlieren. Aufgrund der Vielzahl an Figuren und Schicksalen, die er mit seinem Leser begleitet, ist es nicht immer leicht, den roten Faden zu finden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Last der Hauptrolle hat wohl Kaden Lane, der Entwickler von Nexus zu tragen, der aufgrund der tragischen Ereignisse im ersten Teil zusammen mit seinem neu gewonnenen Freund Feng Zuflucht in tibetischen Klöstern sucht. Seine Freunde Iljana und Rangan werden hingegen vom ERD, einem amerikanischen Geheimdienst, festgehalten und verhört. Samantha Cataranes, jene Elite-Agentin eben dieser Behörde, die auf Kadens Fährte gesetzt worden war, sucht ihr persönliches Vergessen in stumpfen Schaukämpfen, bevor sie sich der Betreuung von Nexus-Kindern widmet. Das Bewußtsein der chinesischen Wissenschafterin Su-Yong, die einem Angriff zum Opfer fiel, dämmert währenddessen auf einem Großrechner gespeichert dem Wahnsinn entgegen. Daneben gibt es noch Martin Holzmann, einen Führungsoffizier des ERD, der an seiner Organisation zu zweifeln beginnt und eine dubiose “Posthuman Liberation Front”, die ihre Ziele mit Attentaten durchzusetzen sucht.

Erstaunlicherweise gelingt es dem Autor nicht nur, die vielen filigranen Handlungsfäden sinnvoll miteinander zu verknüpfen, sondern auch die Empathie des Lesers für jede einzelne seiner nuanciert gezeichneten Figuren zu wecken.

Und auch differenzierteren Überlegungen widmet er wie bereits in “Nexus” ausreichenden Raum, um den Blick des Lesers zu schärfen. Thematisierte er im Vorgängerband die Verantwortung der Wissenschaft für die von ihr gewonnen Erkenntnisse und deren Konsequenzen, philosophiert er nun den nächsten Schritt des Weges: Wie reagieren unterschiedliche soziale Strukturen auf eine derart fundamentale Neudefinition der Begriffe Mensch und Gesellschaft, wie die erwähnten Technologien sie erzwingen. Nexus stellt Autoritäten infrage, untergräbt Hierarchien, führt die Menschheit so nahe an den Begriff der Gleich(artig)keit wie nie zuvor. Indem Bewußtseine zu kollktiven Schwarmintelligenzen verschmolzen werden, wird Individualität vollkommen negiert. Im Umgang mit dieser Entwicklung erweist sich nun der Charakter einer Nation. In China beispielsweise wird die Nutzung von Nexus bereitwillig akzeptiert, seine Verbreitung gefördert, während in den USA noch in einem aussichtslosen Sträuben versucht wird, dessen Besitz und Nutzung zu reglementieren.

Diese alles andere als trivialen Fragen bilden somit das Zentrum des Romans, um das die einzelnen Handlungsfäden gesponnen sind. Als würde der unerbittliche Zwang zur Gleichheit unter den Menschen sich auf formaler Ebene fortsetzen, ist keiner von ihnen als dominierend auszumachen. Vielmehr formen sich diese unterschiedlichen Aspekte des grundlegend überarbeiteten Menschheitsbegriff auf diese Weise zu einem facettenreichen Gesamtbild.

 

Persönliches Fazit

“Crux” gleicht eher einem visionären Wimmelbilderbuch als einem Roman, in dessen Szenarien man sich nachdenklich verliert.

© Rezension: 2016, Wolfgang Brandner

 

 

Crux
Ramez Naam (Aus dem Englischen von Bernhard Kempen, Sprecher: Uve Teschner)
Thriller
Ronin Hörverlag - ISBN: 9783943864809
2015
ungekürztes Hörbuch, 17 Std. 26 min.
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