Rezension: Die Rivalin | Michael Robotham

by Wolfgang Brandner
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Agatha, Ende dreißig, Aushilfskraft in einem Supermarkt und aus ärmlichen Verhältnissen, weiß genau, wie ihr perfektes Leben aussieht. Es ist das einer anderen: das der attraktiven Meghan, deren Ehemann ein erfolgreicher Fernsehmoderator ist und die sich im Londoner Stadthaus um ihre zwei Kinder kümmert. Meghan, die jeden Tag grußlos an Agatha vorbeiläuft. Und die nichts spürt von ihren begehrlichen Blicken. Dabei verbindet die beiden Frauen mehr, als sie ahnen. Denn sie beide haben dunkle Geheimnisse, in beider Leben lauern Neid und Gewalt. Und als Agatha nicht mehr nur zuschauen will, gerät alles völlig außer Kontrolle …  [Text & Cover: © Goldmann Verlag]

ACHTUNG: DIESE REZENSION ENTHÄLT SPOILER

Aufmerksame Leser durchdachter Krimis mit raffiniertem Spannungsaufbau haben den britischen Autor Michael Robotham längst entdeckt. Jeder der wendungsreichen Fälle der Serie um den Psychologen Joe O’Loughlin und den ehemaligen Polizisten Vincent Ruiz wird zu einer intensiven, persönlichen Begegnung mit den beiden Hauptfiguren. Jeder neue Roman aus der Feder Robothams ist daher ein willkommener Anlass zum Besuch der jeweiligen Lieblingsbuchhandlung.

Die schlechte Nachricht: Der aktuelle Roman ist keine Fortsetzung der beliebten Serie. Die gute Nachricht: Wie bereits in “Bis du stirbst” und zuletzt “Um Leben und Tod” schätzt der Autor die Abwechslung, erkundigt neugierig sein Genre – und diese Experimentierfreude spürt man beim Lesen.

“Die Rivalin” mutet wie eine detailliert ausgestaltete Vorgeschichte des kürzlich erschienenen, hoch empfehlenswerten Romans “The Child” von Fiona Barton an, jedoch mit alternativem Handlungsverlauf und Anklängen an “Girl on a Train”: Agatha, eine junge Frau, die sich vom Schicksal benachteiligt fühlt, nimmt als Beobachterin am Leben einer zum Idealbild stilisierten jungen Familie der High Society teil. Die Obsession erreicht ihren schrecklichen Höhepunkt, als Agatha den neugeborenen Sohn von Meghan und Jack entführt, um ihn als ihr eigenes Kind aufzuziehen.

Abwechselnd wird jeweils in der ersten Person aus der Sicht der beiden Frauen erzählt. Damit ist der Autor – bis auf jene Ausnahmen, in denen die beiden einander begegnen – zu ihrer Charakterisierung auf ihre individuelle Perspektive beschränkt. Im Bewusstsein der Leser erwachen die beiden Hauptfiguren somit nicht durch fremde, sondern die jeweils eigene Wahrnehmung zum Leben. Zu Beginn, im Moment des ersten flüchtigen Eindrucks, manifestiert sich die Persönlichkeit der beiden vordringlich durch den jeweiligen Sprachgebrauch. Obwohl also auf den ersten Seiten die Schwangerschaft beide Frauen verbindet, zieht die Gedankenwelt scharfe soziale Grenzen. Meghan ist wortgewandt, weltoffen und als Bloggerin gewohnt, Texte für ein Publikum zu schmieden. Agatha hingegen wirkt eingeschüchtert, leicht einfältig, farblos. Je näher die Leser den Figuren kommen, desto weniger sind die anfangs hilfreichen Etikettierungen notwendig, desto deutlicher treten die aus der Distanz unsichtbaren Details hervor. In der Oberfläche von Meghans magazintauglicher Ehe mit einem bekannten Sportjournalisten werden langsam die feinen Risse sichtbar, in die jener Zweifel sickert, der das fragile Gewebe unter dem Druck der Ereignisse zu sprengen droht. Bereits auf den ersten Seiten wir die Ehe der beiden als ein Stellungskrieg inszeniert:

“Unsere Diskussionen konzentrieren sich immer auf das gleiche alte Terrain, und wir werfen Granaten aus unseren jeweiligen Schützengräben.” (S. 22)

Agathas Erinnerungen hingegen enthüllen Stück für Stück eine von Isolation geformte Persönlichkeit. Ohne die Möglichkeit, sich gedanklich mit anderen zu messen, entwickelt sich ein Bild der Welt, das einem regelmäßigen Reality Check nicht standhalten würde. Ihr Verständnis rationalen Handelns ist nicht mehr deckungsgleich mit jenem ihrer Zeitgenossen. So werden in der Erzählung in der ersten Person aufwühlende Ereignisse als alltägliche Banalitäten dargestellt, aus Agathas Sicht in sich stimmig, in der Beobachtung zusätzlich verstörend. Wenn sie sich an die Kinder erinnert, die sie bereits entführt hat, glaubt man sie von Ladendiebstählen als Mutprobe erzählen zu hören:

“Wenn ich in der Vergangenheit ein Baby gestohlen hab, ist es immer eine spontane Entscheidung gewesen und aus diesem Grund auch schiefgegangen.” (S. 235)

Wenn sie von den Steinhaufen erzählt, unter denen sie die toten Körper verscharrt hat, könnte es sich ebensogut um kleine Gräber im Vorgarten für verstorbene Haustiere handeln.

Dabei bedient sich der Autor eines psychischen Mechanismus’, der im kleinen wie im großen funktioniert: Durch andauernde, affirmative Wiederholung wird das Außergewöhnliche zum Gewöhnlichen, das Schreckliche verliert seinen Schrecken. Wie ein sorgfältiger Küchenchef bei der Zubereitung einer besonderen Spezialität langsam das Wasser im Topf zum Kochen bringt, steigert auch Robotham langsam das Ausmaß von Agathas Wahn. Die Figur bleibt befremdlich, wird jedoch in ihren Zügen nachvollziehbar. Der Verlauf der Handlung resultiert unerbittlich aus ihrer Biographie, jede Handlung ist (in ihrem Verständnis) die Konsequenz der vorangegangenen. Das mit hollywoodtauglichem Pathos verzierte Finale passt nicht ganz in das sorgsam konstruierte Bild und mutet wie ein von außen verordnetes Happy End an.

“Die Rivalin” wirkt wie ein Experiment Michael Robothams, mit dem er sich selbst auf die Probe stellt: Ist er in der Lage, glaubhaft ausschließlich aus der Sicht weiblicher Figuren zu erzählen und dabei über die kleinen alltäglichen geschlechtlichen Unterschiede hinaus in jenen Bereich vorzudringen, der den Frauen vorbehalten ist, nämlich Schwangerschaft, Geburt, Mutterschaft ?

“Die Fruchtblase platzte mitten in der Nacht, und ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Meine Stimme klang eigenartig fremd, als ich zwölf Stunden lang schrie, stöhnte und wimmerte, während mein Baby darum kämpfte, herauszukommen, und mein Körper darum, es drinnen zu behalten.” (S. 187)

Der Befund des (männlichen) Lesers: Experiment geglückt.

 

Persönliches Fazit

In einem eigenständigen Thriller außerhalb seiner O’Loughin / Ruiz – Serie versucht sich Michael Robotham an ausschließlich weiblichen Perspektiven. Langsam und ausführlich erzählt, schöpft die Geschichte ihre Spannung aus dieser kontinuierlichen, unerbittlichen Eskalation.

© Rezension: 2018, Wolfgang Brandner

 
Die Rivalin
Michael Robotham (Aus dem Englischen von Kristian Lutze)
Thriller
Goldmann Verlag
2018
Klappenbroschur, 512 Seiten
2 comments

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2 comments

Evelin Brigitte Blauensteiner 21. August 2018 - 14:08

Spannend!
Danke für die Empfehlung! Evelin Brigitte Blauensteiner

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Wolfgang 21. August 2018 - 18:53

Danke für Deinen Kommentar, ich hoffe, das Buch fesselt Dich genauso wie mich.

Liebe Grüße
Wolfgang

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