Aufgelesen #13 | NICHT NUR MILCH UND SEMMELN

by Wolfgang Brandner
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AUFGELESEN #13


Liebe Leserin, lieber Leser,

 

nun sag, wie hast du’s mit der Religion?

Die berühmte Gretechenfrage aus Goethes Faust möge jeder für sich selbst beantworten.

Und wie hast Du es mit dem Fasten?

 

Mit dem Aschermittwoch (heuer der 10. Februar) hat die in der christlichen Liturgie vorgesehene Fastenzeit als Vorbereitung auf das Osterfest begonnen. Sie umfasst 40 Tage und bezieht sich damit auf jene Periode, die Jesus Christus in der Wüste verbracht hat. Je nach Zählweise werden dabei einzelne Tage ein- oder ausgeschlossen, wie so oft im religiösen Kontext steht dabei jedoch Symbolik vor Erbsenzählerei. Und diese ist eindeutig: Die Fastenzeit beginnt mit der Besinnung auf die Endlichkeit des eigenen Lebens (Memento Mori) und betont die Einschränkung. Wo im Fasching (dem carne vale) Überfluss und Übermut herrschten, sind wir nun mit dem Kontrast konfrontiert. Im Mittelalter war etwa nur eine Mahlzeit am Tag erlaubt, Fleisch, Milchprodukte, Eier und Alkohol waren verboten. In der Evangelischen Kirche beruht das Fasten auf Freiwilligkeit, wird jedoch nicht minder ernst genommen. Auch das Judentum und der Islam kennen Perioden bewussten Verzichts, im Buddhismus und Hinduismus gilt generell eine enthaltsame Lebensweise als tugendsam. Als sinnstiftende, religionsübergreifend Gemeinsamkeit ist eine auf einen exponierten Anlass hin ausgerichtete spirituelle Reinigung zu erkennen.

Gefastet wird in unseren Breiten aber nicht nur aus religiöser Motivation, vielmehr erkennen viele hier eine zweite Chance für gebrochene Neujahrsvorsätze.

Die Zeit vor Ostern ist durch die erkennbare kirchliche Strukturierung des Jahreskreises immer noch symbolisch aufgeladen, die gesellschaftliche Wahrnehmung ist also in dieser Hinsicht geschärft. Und außerdem ist der Zeitraum im Gegensatz zu den Pakten, die in der Silvesternacht mit sich selbst geschlossen werden, leichter überschaubar.

 

Wie hast Du es denn nun mit dem Fasten?

 

Diese Frage kann also durchaus auch von nicht religiösen Menschen beantwortet werden. Wozu sollte man allerdings auf Liebgewonnenes verzichten, welcher Sinn liegt darin, sich Verhaltensweisen anzueignen, von denen die gute Laune beeinträchtigt wird? Zumindest besteht ein populäres Missverständnis darin, die Fastenzeit als eine Blitzdiät (mit garantiertem Jojo-Effekt) zu begreifen. Unzählige Rezepte, Empfehlungen und Vorschriften kursieren derzeit wieder, die allesamt einen raschen Gewichtsverlust versprechen. Andererseits, sich zum Selbstzweck die leiblichen Genüsse zu verwehren und infolgedessen aufgrund erhöhter Reizbarkeit von den Mitmenschen gemieden zu werden … das kann ja wohl auch nicht sonderlich weise sein. Eine Beschränkung auf das Kulinarische ist also zu kurz gegriffen, vielmehr stellt die Zeit der länger werdenden Tage eine Einladung zum mentalen Frühjahrsputz dar. Evolutionär betrachtet hat der Winterspeck hat seinen Zweck erfüllt, langsam wird ein sommerlicheres Erscheinungsbild wieder zweckmäßig.
Die richtige Gelegenheit also, das mentale Inventar wie einen Dachboden abzustauben, zu durchforsten. Alte Erinnerungsstücke werden wieder in die Hand genommen, lange aufgeschobene Aufgaben drängen sich wieder ins Bewusstsein. Und wenn man erkennt, dass man zur Seite gelegte Gegenstände gar nicht mehr braucht, werden sie entsorgt. Wer jemals ein Regal oder einen Kasten entrümpelt hat, weiß, wie befreiend es sein kann, sich von Dingen kurzerhand zu trennen.
Genauso bietet sich nun die Gelegenheit, die eigenen Gewohnheiten prüfend zu betrachten. Welchen Ursprung haben bestimmte Verhaltensweisen? Welchem Zweck dienten sie eigentlich, und erfüllen sie diesen immer noch? Wie wichtig ist mir das mit ihnen angepeilte Ziel noch, und kann ich es anders erreichen? Es heißt doch, Umleitungen seien die beste Möglichkeit, die eigene Stadt kennenzulernen. Warum also nicht sich selbst bewusst einer veränderten Situation aussetzen, um die eigene Reaktion darauf zu beobachten? Was spricht dagegen, die Zeit als mentales Trainingscamp zu nutzen? Die Psychologie nennt den Zeitraum von 21 Tagen, der erforderlich ist, um eine einfache Handlung durch Wiederholung als eine Gewohnheit im Unterbewusstsein zu verankern. Das Gehirn unterscheidet dabei nicht zwischen guten und schlechten Angewohnheiten, ergo kann man dieses Wissen nutzen, indem man das Unerwünschte durch das Erwünschte ersetzt. Und der Zeitraum von 40 Tagen ist großzügig genug bemessen, um sich auch einen Fehlstart leisten zu können.

Schließlich: Wie hast Du es mit dem Ausprobieren?

 

“Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn!”
Setzen wir mit diesem Imperativ, ebenfalls aus Goethes Faust, die Überlegungen in die Praxis um, am besten in kleinen Schritten. Hier sollen keine fundamentalen Umwälzungen ausgelöst, sondern sinnvolle Akzente gesetzt werden. Das bedeutet, dass es ein Vegetarier wohl leicht verschmerzen kann, auf Fleisch zu verzichten und ein Nichtraucher mit dem Verzicht auf Zigaretten auch kein großes Opfer bringt – sinnvoll ist also anders.
Liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht ist es der schon unbewusste Griff in die Lade mit den Süßigkeiten, bei dem Du Dich ertappst, vielleicht landen Produkte im Einkaufswagen, die nicht auf Deiner Liste stehen. Versuche doch, die kleinen gaumenbeglückenden Verlockungen außerhalb der Reichweite zu lagern und bewusst auf den richtigen Hunger zu warten – Du wirst ihn als solchen erkennen. Versuche, beim Griff ins Supermarktregal die Bauchentscheidung noch einmal zu hinterfragen. Wenn zuvor von neuen Gewohnheiten die Rede war, nimm Dir vor, jeden Tag vor dem Abendessen noch eine halbe Stunde zu spazieren. (Ein kleiner Tipp dazu: Mit einem interessanten Hörbuch geht’s leichter.) Nimmt Dir vor, den Tag nicht vor dem Fernseher, sondern mit der Nase im Buch zu beenden. Auch wenn es schwer fällt, versuche, eine Zeitlang keine neuen Bücher anzuschaffen und Dich stattdessen an jenen zu erfreuen, die noch von den letzten Einkäufen im Regal warten.
Ich selbst habe vor kurzem einen Tag lang bewusst auf meinen Kaffee verzichtet … mit dem Ergebnis, dass er am nächsten Tag zu einem besonderen Geschenk wurde. In jedem Fall erlebt man eine bereichernde Erfahrung, idealerweise wächst man auch daran. Ob sich eine Handlung schließlich als Gewohnheit verfestigt hat, erkennt man an der Lücke, die sie gegebenenfalls hinterlässt. Wenn ein diffuses Unwohlsein durch kühle frische Luft im Gesicht, durch das Ausschalten des Fernsehers behoben werden kann … dann hat man es geschafft.
Zum Abschluss noch eine gute Nachricht für alle, denen der Verzicht auf die liebste Süßigkeit allzu schwer fällt: Nachdem Papst Pius V. (1566-1572) von der ihm kredenzten Trinkschokolade gekostet hatte, befand er:

“Schokolade bricht das Fasten nicht.”

Freudiges Weiterlesen!

© Wolfgang Brandner

Und ganz ehrlich: Wie hast Du es denn nun mit dem Fasten???

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