Rezension: Immerstill | Roman Klementovic

by Wolfgang Brandner
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Kein Entrinnen.

In einer eisigen Winternacht verschwinden zwei Jugendliche spurlos. Die örtliche Polizei tappt im Dunkeln, findet keinerlei Anhaltspunkte und mit der Zeit gerät der Fall in Vergessenheit. Doch dann, auf den Tag genau drei Jahre später, werden wieder zwei junge Menschen vermisst. Die Medien wittern eine Tragödie und in dem kleinen Dorf wächst die Nervosität. Als eine misshandelte Leiche gefunden wird, bricht Panik aus. [Text + Cover: Gmeiner Verlag]

 

 

 

“Ich kann Wolfsegg nicht mehr sehen, […] die Mauern vertrage ich nicht mehr, die Menschen ebensowenig wie die Mauern, und das Klima ist mir endgültig unmöglich geworden.”

Dieses Zitat aus Thomas Bernhards “Auslöschung” könnte man ebenso gut der Ich-Erzählerin in Roman Klementovics neuem Roman “Immerstill” in den Mund legen und auf ihren fiktiven Geburtsort anwenden.

Der Roman beginnt mit einer Autofahrt durch symbolträchtig dichten Nebel aus der Bundeshauptstadt Wien in das im niederösterreichischen Marchfeld gelegene fiktive Grundendorf, aus dem Radio dringt Roxettes “It Must Have Been Love”. Die Schwester der Erzählerin Lisa ist entführt worden, die Sorge zwingt sie zur Auseinandersetzung mit der längst bewältigt geglaubten Vergangenheit.

Der Erzähltopos – die Suche nach den eigenen Wurzeln – dient dem Roman als eine bewährte Grundlage und dem Autor, sich an der dörflichen Mentalität abzuarbeiten. Das archetypische österreichische Dorf, wie es in der Literatur von Franz Innerhofer zu Thomas Bernhard und nun auch bei Roman Klementovic vorkommt, ist jene Form der Besiedelung im ländlichen Raum, die so überschaubar ist, daß jeder den Wohnort jedes anderen kennt und alle Distanzen zu Fuß zu bewältigen sind. Die Ausdehnungen des mentalen Horizonts der Bewohner verhält sich dabei umgekehrt proportional zu jener der Landschaft, in der die Ansiedelung eingebettet ist: Je weiter der Blick reicht, desto engstirniger sind die Menschen.

In Grundendorf nun hat längst der Verfall Einzug gehalten, “… das bunt blühende und wohl gedeihende Marchfeld war […] nur eine Lüge, die den Konsumenten in der Werbung und auf Tiefkühlgemüseverpackungen aufgeschwatzt wurde.” (S. 32).

Scheiben sind eingeschlagen, das Wartehäuschen am Bahnhof mit obszönen Sprüchen beschmiert, herrenlose Fahrräder rosten vor sich hin, in der Dienststelle der Polizei hängt das Portrait eines bereits verstorbenen Bundespräsidenten. Das Dorf ist getaucht in eine Atmosphäre der Trostlosigkeit, als wäre es in einer längst vergangenen Dekade hängengeblieben. Einen eben solchen Eindruck erwecken die Menschen, sie werden beschrieben als “lieblos, kalt und grau.” (S. 61). Im Fall einer älteren Frau riecht der Atem – Symbol des Lebensgeistes – nach verfaulten Eiern. Öffentliche Veranstaltungen wie Begräbnisse oder Gottesdienste sind geprägt von einer Mischung aus Betroffenheit und Sensationslust. Die sozialen Grenzen sind ungewöhnlich scharf gezeichnet, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe entsteht durch kaum verhohlenes Mißtrauen gegenüber dem anderen. Die schwierige Aufgabe, komplexe Sachverhalte adäquat zu artikulieren, mündet nicht selten in Vereinfachungen, in der Suche nach universellen Sündenböcken, die als Projektionsfläche für die individuell erlittene Ungerechtigkeit dienen.

Klementovic versucht erst gar nicht, diese dörfliche Mentalität als historisch gewachsen oder durch die Lebensumstände entstanden zu erklären, sondern nutzt die Abkürzung über die entsprechenden Stereotypen. Umso verwunderlicher daher, daß der Heimatbegriff, den er zeichnet, ein ambivalenter ist: Wenn Lisa davon spricht, “nach Hause” zu reisen, bezieht sie sich auf Wien. Das Verlassen des Dorfes wirkt wie das Ablegen einer schweren Last, die beengt und die Atemluft abschnürt. Und dennoch stärkt der Ort ihrer Kindheit der Erzählerin so weit den Rücken, daß sie eine wichtige Trennung vollziehen kann. Lisa leidet unter iher Beziehung zu dem Künstler Tom, mit dem sie sich in der Bundeshauptstadt eine Wohnung teilt und der sie körperlich und seelisch mißhandelt. Als er sie in ihrem Elternaus aufsucht, findet sie erstmals die Kraft, ihm die Stirn zu bieten und ihn aus ihrem Leben zu verbannen.

Als schließlich die Entführung ihrer Schwester Marie aufgeklärt scheint und sie sich auf den Weg zurück in die Stadt macht, ist aus dem Autoradio wieder Roxettes “It Must Have Been Love” zu hören, wie eine schließende Klammer, die den Roman formell beendet. Und doch ist da eine unsichtbare Kraft, die über diese Grenzen der Erzählung hinaus wirkt, die Lisa zurück nach Grundendorf zieht, so, als könne sie gar nicht anders, so, als sei ihr kein Ausweg bestimmt. Und ebenfalls dort, im narrativen Niemandsland kommt es zu einem zweiten Finale, das in einem Superlativ der Grausamkeiten kulminiert, das wie ein Destillat der schrecklichsten österreichischen Kriminalfälle der letzten Jahre wirkt. Das sich ergebende Bild ist beinahe biblisch: Die hartnäckige Suche nach Wahrheit, nach Erkenntnis fördert das Schlimmstmögliche zutage.

 

Persönliches Fazit

Nach dem Debüt von Roman Klementovic, das sich wie eine Hommage an grindige 70er Jahre-Kottan-Geschichten liest, vermeint man nun in seinem zweiten Roman zwischen den Zeilen einen jungen Thomas Bernhard leise auf das bigott-bornierte Dorfleben schimpfen zu hören.

© Rezension, Wolfgang Brandner

 

Immerstill
Roman Klementovic
Thriller
Gmeiner Verlag - ISBN: 9783839218884
2016
309 Seiten
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